Sonntag, 28. Dezember 2008

Ein russischer Junge

Wir schreiben das Jahr 1994. Zwei Amerikanerinnen besuchen ein Waisenhaus in Russland. Über hundert Jungen und Mädchen befinden sich dort. Sie wurden missbraucht oder von ihren Eltern verlassen. Nun werden sie in einem staatlich geführten Heim betreut. Eine der Frauen erinnert sich:

Diese Jungen und Mädchen hörten zum ersten Mal in ihrem Leben die Geschichte von der Geburt Jesu. Wir erzählen ihnen von Maria und Joseph, wie sie in Bethlehem ankamen und kein Zimmer mehr im Gasthaus bekamen, kein Raum im Dorf war mehr frei. Wie sie dann in den Stall gingen, wo das Baby Jesu geboren und in die Krippe gelegt wurde.

Während der ganzen Erzählung war es sehr ruhig. Die Kinder und ihre Betreuer ließen sich kein Wort entgehen. Um die Geschichte zu vertiefen, teilten wir Pappe aus, um jedes Kind eine Krippe basteln zu lassen. Jedes bekam ein kleines Quadrat aus gelben Servietten, um Stroh in die Krippe legen zu können. Nach unsren Anweisungen rissen sie aus der Pappe die Umrisse der Krippe und legten sehr sorgfältig das Stroh herein. Kleine Quadrate aus einem abgetragenen Flanellhemd wurden zur Decke für das Baby, dessen Körper aus gelbbraunem Filzstoff ausgeschnitten und darunter gelegt wurde.

Die Kinder waren eifrig dabei, ihre Krippe zusammenzusetzen, während ich durch die Reihen ging, um zu sehen, wo Hilfe nötig wäre.

Schließlich kam ich an Mischas Tisch. Er mochte etwas sechs Jahre alt sein und war schon fertig. Als ich mir seine Krippe genauer ansah, entdeckte ich etwas Überraschendes:

In seiner Krippe lagen zwei Babys. Schnell winkte ich die Übersetzerin herbei und fragte, warum denn in seiner Krippe zwei Babys schliefen. Der kleine Junge wiederholte die Geschichte ernsthaft und für einen sechsjährigen Jungen sehr genau. Er hatte sie ja nur einmal gehört, aber jede Begebenheit exakt richtig behalten – bis zu dem Moment, wo Maria das Baby in die Krippe legt. An dieser Stelle erzählt Mischa sein eigenes Ende der Geschichte:

„Als Maria Jesus in die Krippe legte, schaute Jesus mich an und fragte mich, ob ich einen Platz hätte, an den ich gehöre“, sagte Mischa. 

„Ich erzählte ihm, dass ich keinen Papa und keine Mama habe und dass nirgends ein Platz für mich ist. Da sagte Jesus zu mir, ich könnte bei ihm bleiben. Aber ich sagte ihm, das ginge nicht, weil ich kein Geschenk für ihn habe, so wie die anderen Leute alle. Aber ich wollte doch so gerne bei Jesus bleiben, also dachte ich weiter darüber nach, was ich ihm als Geschenk geben könnte

Dann hatte ich eine Idee. Wenn ich ihn wärmen würde, das wäre vielleicht gut genug als Geschenk? Also fragte ich Jesus: Wenn ich dich warm halte, würde das reichen?

Und Jesus sagte: Wenn du mich wärmst, dann ist das das beste Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hat! Also bin ich in die Krippe gestiegen und dann sah Jesus mich an und sagte mir, ich könnte bei ihm bleiben – für immer!“

Als Mischa geendet hatte, rannen ihm die Tränen über die Wangen. Er legte die Hände vor sein Gesicht, sein Kopf sank auf den Tisch und seine Schultern zuckten. Der kleine Waisenjunge hatte jemanden gefunden, der ihn niemals verlassen oder missbrauchten würde, der ihm einen Platz in seinem Herzen anbot, jemand, der bei ihm bleiben würde – für immer!

Will Fish (aus. Joyce)

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